Die Polyvagal Theorie von S. Porges

Die Polyvagal Theorie ist ein aktuell viel beachteter Ansatz der psychophysiologischen Sicht auf das Verhalten des Menschen und den zugrundeliegenden neurophysiologischen Mechanismen. Im Fokus dieser Theorie steht der Einfluss des kranialen Parasympathikus auf das soziale Engagement.

Sie basiert auf den phylogenetischen Unterschieden der efferenten vagalen Ursprungskerne und unterscheidet einen älteren Vagus, Nucleus (Ncl.) dorsalis n. vagi, dessen Bahnen schwach myelinisiert/ „unmyelinisiert“ sind, von einem neuen Vagus, Ncl. ambiguus, dessen Fasern myelinisiert sind. Der Ncl. dorsalis n. vagi versorgt hauptsächlich die subdiaphragmentalen Organe, während dem Ncl. ambiguus die Innervation supradiaphragmentaler Organe zukommt. Aufgrund des phylogenetischen Unterschiedes der beiden Kerngebiete wurden die Defensivstrategien von Reptilien, denen der neue Vagus fehlt, mit denen der Säugetiere verglichen. Den klassischen Verteidigungsmechanismen „Kampf/Flucht und Totstellen“, die dem sympathischen und parasympathischen vegetativen Nervensystem zugeordnet sind, fügt Porges eine weitere Möglichkeit der Begegnung auf bedrohliche Situationen hinzu. Die Möglichkeit der sozialen Interaktion, welches er „System des Sozialen Engagements“ nannte und dem neuen Vagus zuordnete.

Besonders in Bezug auf Herz und Lungen haben diese drei Defensivstrategien unterschiedliche Auswirkungen. Während des Totstellens werden deren Funktionen massiv runtergeregelt, um in einer akut lebensbedrohlichen Situation ohne erfolgsversprechende Möglichkeit einer Auseinandersetzung im Sinne von Flucht oder Kampf der Gefahr entkommen zu können. Diese Reaktion wird dem alten Vagus zugeschrieben. Bei Flucht oder Kampf werden deren Funktionen stark gesteigert, um einer Bedrohung physisch entgegentreten zu können. Dies ist die typisch sympathisch regulierte Reaktion. Im Sinne der sozialen Interaktion bei Erscheinen einer Bedrohungslage müssen die initial einsetzenden kardiopulmonalen Aktivitätssteigerungen gedrosselt werden, um vernünftig interagieren zu können. Dieser Einfluss auf die thorakalen Organe wird von dem neuen Vaguskern initiiert. Darüber hinaus entspringen dem Ncl. ambiguus viszeroefferente Bahnen, die die Muskulatur von Larynx, Pharynx und Oesophagus innervieren. Zusätzlich interagiert der neue Vagus nach Porges mit den Kerngebieten des V., VII., IX. und XI. Hirnnerven, als ventraler Vaguskomplex bezeichnet, so dass er neben der kardiopulmonalen Komponente auch die Kopfhaltung, die Mimik und die Muskeln des Innenohrs beeinflusst, um für optimale soziale Interaktionsbedingungen zu sorgen.

Die Polyvagal Theorie wird in vielen Body Mind Ansätzen vor allem zur Behandlung von Traumapatienten und schweren psychologischen/ psychiatrischen Krankheitsbildern mitunter sehr erfolgreich angewandt und bietet interessante diagnostische und Interventionsmöglichkeiten.

Aus unserer Sicht stellt sie ein probates Modell zum Einstieg in die komplexe Interaktion des Vegetativums mit dem Verhalten von Patienten bzw. deren inneren Prozessen bei der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen dar. Jedoch handelt es sich eindeutig um eine reduktionistische Sicht und es mehren sich die kontroversen Stimmen zu der von Porges postulierten wissenschaftlichen Basis. Beispielsweise werden myelinisierte kardioinhibitorische Bahnen und zwei unterschiedliche Vaguskerne nicht nur bei Säugetieren beschrieben, auch Knorpel- und Lungenfische verfügen darüber. Die Interaktion des neuen Vaguskerns mit den anderen Hirnnerven als Koordinator des Sozialen Engagements spart deren komplexe zerebrale Verschaltung und Interaktion mit verschiedensten Systemen aus und reduziert es auf den Vagus.

 

Porgas S W (2010). Die Polyvagal Theorie – Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Paderborn: Jungfermann.

Liem T, Neuhuber W (2021). Kritik an der Polyvagaltheorie. DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie. 2021; 19: 34-37.